Hl. Alberto Hurtado
Cruchaga, S.J.
(1901-1952 Chile)
Während seiner Reise nach Chile im
Jahre 1987 sprach Papst Johannes-Paul II. folgende hoffnungsvolle Worte:
"Wird der Heilige Geist auch heute Apostel von der Größe eines Pater
Hurtado hervorbringen können, die durch ihr heroisches Zeugnis der Liebe die
Vitalität der Kirche manifestieren? Wir sind überzeugt davon und bitten ihn
vertrauensvoll darum."
Alberto Hurtado Cruchaga wurde am 22. Januar 1901 in Viña del Mar in Chile
geboren. Er war erst vier Jahre alt, als sein Vater starb. Seine Mutter Ana
geriet durch diesen plötzlichen Tod in große finanzielle Not und suchte mit
ihren beiden Söhnen in der Hauptstadt Santiago Zuflucht. Ohne eigenes Heim,
waren sie ihren mehr oder weniger wohlwollenden Verwandten ausgeliefert und
mussten von einem zum anderen ziehen. Alberto litt sehr unter dieser misslichen
Familiensituation; dennoch schloss er erfolgreich die Schule ab und begann im
März 1918 ein Jurastudium an der Katholischen Universität Chiles.
"Wen soll man lieben?"
Die schweren Kindheitsjahre hatten Alberto nachhaltig geprägt: Sein ganzes
Leben lang fühlte er sich verpflichtet, sich um die Benachteiligten zu kümmern.
Denn er konnte weder Schmerz noch Not sehen, ohne sie lindern zu wollen. Später
schrieb er: "Wen man lieben soll? Alle Mitmenschen. Unter ihren
Misserfolgen, ihrer Not und unter der Unterdrückung, deren Opfer sie werden,
mitleiden. Sich an ihrer Freude mitfreuen. Ich beginne mit der Erinnerung an
all diejenigen, denen ich auf meinem Wege begegnet bin. An die, von denen ich
Leben, Licht und Brot empfangen habe. An die, mit denen ich Dach und Brot
geteilt habe. Die ich bekämpft, denen ich Leid zugefügt, die ich enttäuscht,
denen ich Unrecht getan habe. All die, denen ich beigestanden bin, denen ich
geholfen habe und die ich habe unterstützen können. Die, die sich mir
entgegengestellt, die mich verachtet und die mir Unrecht getan haben. Alle
Bewohner meiner Stadt, meines Landes. Alle Bewohner der Erde sind meine
Brüder."
Doch ist eine solche Nächstenliebe überhaupt möglich? Ja, sagt Papst
Benedikt XVI.: "So wird Nächstenliebe in dem von der Bibel, von Jesus
verkündigten Sinn möglich. Sie besteht ja darin, dass ich auch den Mitmenschen,
den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Das
ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die
Willensgemeinschaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne
ich, diesen andern nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen,
sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund.
Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der
Liebe – auf Zuwendung « Ich kann dem anderen mehr geben als die äußerlich
notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, den er braucht" (Enzyklika Deus
caritas est, 25. Dezember 2005, Nr. 18).
Alberto war noch seiner Berufung unsicher. Nach innigem Beten bot er sich
dem Herrn dar: "Ich gebe Dir alles, was ich bin und habe, ich will Dir
alles geben, Dir dort dienen, wo es keine Schranken für die völlige
Selbsthingabe gibt." Er entschied sich für die Jesuiten. Ende 1923 schrieb
er an einen Freund: "Endlich bin ich Jesuit und fühle mich so glücklich
und zufrieden, wie man es nur in dieser Welt sein kann. Ich danke Gott, der mich
in dieses Paradies geführt hat, in dem man rund um die Uhr ganz für Ihn da sein
kann." Er wurde nach Córdoba in Argentinien entsandt, wo er am 15. August
1925 seine Gelübde ablegte. Da er gerne dienen wollte, bat er um einfache
Küchenarbeit. Er übte sich fleißig in allen Tugenden, besonders in der Achtung
vor dem Nächsten: "Meine Mitbrüder nicht kritisieren, sondern ihre Fehler
verhüllen, von ihren Vorzügen sprechen. Von den Vorgesetzten und ihren
Anordnungen immer nur im Guten sprechen." Denn "die Ehre [ist] das gesellschaftliche
Zeugnis für die Würde eines Menschen, und jeder besitzt das natürliche Recht
auf die Ehre seines Namens, auf seinen guten Ruf und auf Achtung. Üble Nachrede
und Verleumdung verletzen somit die Tugenden der Gerechtigkeit und der Liebe"
(Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2479).
Zum Theologiestudium wurde Alberto Hurtado nach Spanien geschickt. 1931
musste er wegen politischer Unruhen auf der iberischen Halbinsel an die
Universität Löwen nach Belgien wechseln. Seine Mitbrüder beschrieben ihn
einmütig als fröhlich, arbeitsam und allen gegenüber hilfsbereit. Am 24. August
1933 wurde er zum Priester geweiht. "Jetzt ist es geschafft, für euch bin
ich von jetzt an ein Priester des Herrn!", schrieb er an einen Freund.
"Gott hat mir die große Gnade gewährt, in allen Häusern, in denen ich
gewohnt habe, und mit allen Gefährten, die ich gehabt habe, glücklich zu leben.
Aber jetzt, da ich für immer zum Priester geweiht bin, ist mein Glück größer
denn je. Daher möchte ich mein Amt aus einem sehr intensiven Innenleben heraus
ausüben und nur soweit aktiv werden, wie es damit vereinbar ist. Das Geheimnis
dieser Harmonie und des Erfolges liegt in der Verehrung des Heiligsten Herzens
Jesu, d.h. in der überfließenden Liebe zu unserem Herrn."
So hoch wie möglich
Pater Hurtado wirkte bei der Gründung der Theologischen Fakultät an der
Katholischen Universität Chiles mit und hatte einige Mühe, Professoren, Bücher
und Zeitschriften aufzutreiben. Am 10. Oktober 1935 verteidigte er brillant
seine Dissertation in Pädagogik an der Universität Löwen und besuchte
anschließend verschiedene Lehreinrichtungen in mehreren europäischen Ländern.
Nach seiner Rückkehr nach Santiago de Chile im Februar 1936 unterrichtete Pater
Alberto am dortigen Jesuitenkolleg. Er zog junge Leute an und bildete sie in
karitativen und sozialen Tätigkeiten aus. Er hielt Exerzitien nach denen des
hl. Ignatius ab, ermahnte dabei die Teilnehmer zu einer immer tieferen
Begegnung mit dem Herrn und half ihnen, ernsthaft den Willen Gottes zu erkunden:
"Exerzitien sind für die Seelen da, die sich erheben wollen, und zwar so
hoch wie möglich; die den Sinn des Wortes ‚lieben' begriffen haben, wie auch,
dass das Christentum Liebe bedeutet und dass das wichtigste Gebot das
Liebesgebot ist."
Von großem priesterlichem Eifer beseelt, war Pater Hurtado ein Vorbild in
der Verehrung der Eucharistie; ein Kapuzinermissionar sagte gar, wenn alle
Priester die Messe auf seine Art zelebrierten, wären sie allesamt angehende
Heilige. 1941 wurde er zum Jugendkaplan der Katholischen Aktion in Santiago
ernannt; so erreichte sein Apostolat nun auch die Schüler der öffentlichen
Gymnasien. Er weckte zahlreiche Berufungen. In seinem Buch "Ist Chile
ein katholisches Land?" öffnete er vielen seiner Zeitgenossen die
Augen über die Lage im Lande, indem er auf das schwere Problem des
Priestermangels hinwies. Allerdings blieb sein grundlegender Optimismus davon
ungetrübt, und bald war sein pastoraler Erfolg so groß, dass er zum
Nationalkaplan für die katholische Jugend ernannt wurde. Er reiste durch das
Land und hielt überall Exerzitien.
Bei einem großen Fackelzug zu Ehren der Allerseligsten Jungfrau Maria zum
Hügel über Santiago sprach Pater Alberto folgende Worte zu den mehreren tausend
jungen Teilnehmern: "Käme Christus heute Nacht zu uns hernieder, würde er
beim Anblick unserer Stadt immer wieder beteuern: Ich habe Mitleid mit diesem
Volk. Dann würde er sich an euch wenden und voller Zärtlichkeit sagen: Ihr seid
das Licht der Welt. Ihr müsst diese Finsternis erleuchten. Wer will mit mir
zusammenarbeiten? Wollt ihr meine Apostel sein?" Der Pater zitierte damit
den hl. Ignatius, der in seinen Geistlichen Übungen Jesus diese Worte
zuschrieb: "Mein Wille ist es, die gesamte Welt und sämtliche Feinde zu
unterwerfen, und so in die Glorie meines Vaters einzugehen. Wer deshalb mit mir
kommen will, hat sich anzustrengen mit mir, damit er, wie er mir in der Mühsal
folgte, so auch mir in der Glorie folge" (Nr. 95). Pater Hurtado
kommentierte das, indem er seinerseits Jesus folgende Worte in den Mund legte:
"Ich brauche dich. Ich zwinge dich nicht, aber ich brauche dich, um meine
Pläne der Nächstenliebe zu realisieren. Kommst du nicht, so bleibt ein Werk
unverwirklicht, das nur du, du allein, verwirklichen kannst. Kein anderer kann
dieses Werk übernehmen, denn jeder muss seine eigene Rolle ausfüllen. Schau auf
die Welt, die Ernte ist reif, und wie viel Hunger, wie viel Durst gibt es da!
Viele hungert es nach Religion, nach Spiritualität, nach Vertrauen und
Lebenssinn."
Der Triumph des Scheiterns
Doch der Eifer des Paters kam nicht überall gut an. Man warf ihm vor, er
verweigere den Gehorsam gegen die Hierarchie, er habe zu fortschrittliche und
überzogene Vorstellungen auf sozialem Gebiet und sei zu unabhängig von den
anderen Zweigen der Katholischen Aktion. Der Gegenwind kam insbesondere vom
obersten Jugendpfarrer des Landes. Im November 1944 zog Pater Hurtado vor, von
seinem Amt als Kaplan der Katholischen Aktion zurückzutreten, obgleich es ihn
tief schmerzte. Denn er wusste wohl, wie fruchtbar dieser Schritt werden
konnte: "In der christlichen Arbeit gibt es einen Triumph des
Scheiterns!", schrieb er. "Späte Triumphe! In der Welt des
Unsichtbaren ist das, was zu nichts nütze erscheint, am wirkungsvollsten. Einem
reinen Herzens angenommenen völligen Scheitern entspringen viel mehr Erfolge
als einem Sieg. Säen, ohne sich darum zu sorgen, was daraus wächst. Trotz allem
immer weiter säen. Dem Herrn für die apostolischen Früchte meines mehrfachen
Scheiterns danken. Als Christus zum reichen Jüngling aus dem Evangeliums
sprach, scheiterte Er; aber wie viele Leute haben die Lehre daraus gelernt! Und
als Er die Eucharistie verkündete, wie viele Leute sind davongelaufen; wie
viele aber sind herbeieilt! Du wirst arbeiten! Dein Eifer wird zwar wie
totgeboren aussehen, aber wie viele Leute werden durch dich leben!"
In einer kalten, verregneten Nacht begegnete Pater Hurtado einem armen,
schlotternden und obdachlosen Mann. Sein Elend erschütterte den Pater. Einige
Tage später sprach er in einer Einkehrpredigt für Damen über das in Santiago
herrschende Elend: "Christus irrt durch unsere Straßen in der Gestalt so
vieler Armen, Leidenden und Kranken, die selbst aus ihren armseligen
Elendsquartieren vertrieben wurden. Christus hat keine Bleibe! Könnten wir Ihm
nicht eine anbieten, wir, die wir so glücklich sind, dass wir ein bequemes
Zuhause, reichlich zu essen sowie die notwendigen Mittel besitzen, um unsere
Kinder zu erziehen und ihnen eine Zukunft zu bieten? Denn was ihr getan habt
einem dieser Geringsten, habt ihr mir getan, sagt Jesus (Mt 25,45)."
Am Ende der Einkehrtage wurden dem Pater ein Grundstück sowie etliche
Schmuckstücke und Schecks übereignet, die die Stiftung "Hogar de
Cristo" (Heim Christi) möglich machten. Sechs Monate danach weihte der
Erzbischof von Santiago die erste Einrichtung der Stiftung. Das Hilfswerk
breitete sich von da an immer weiter aus, um die Ärmsten aufzunehmen, indem es
eine Welle der Solidarität weckte, die über die Grenzen des Landes hinausging.
Doch sein Ziel war vor allen Dingen geistlich: "Eine der ersten
Qualitäten, die wir unseren Bedürftigen wiedergeben müssen, ist ihr
Selbstwertgefühl, das Bewusstsein ihrer Würde als Kinder Gottes."
Erste Armut
Diese Erfahrung Pater Hurtados illustriert die Worte von Papst Benedikt
XVI. in seiner Botschaft zur Fastenzeit 2006: "Angesichts der
schrecklichen Herausforderungen der Armut vieler Menschen stehen die
Gleichgültigkeit und die Verschlossenheit im eigenen Egoismus in unerträglichem
Gegensatz zum ‚Blick' Christi « Auch in der heutigen Zeit globaler
gegenseitiger Abhängigkeit kann man feststellen, dass die Hingabe seiner selbst
an den anderen, in der sich die Liebe ausdrückt, durch kein ökonomisches,
soziales oder politisches Projekt ersetzt werden kann. Wer nach dieser Logik
des Evangeliums tätig ist, lebt den Glauben als Freundschaft mit dem
menschgewordenen Gott und nimmt sich – wie ER – der materiellen und geistlichen
Nöte des Nächsten an. Er erschaut ihn als unmessbares Geheimnis, das
unbegrenzter Sorge und Aufmerksamkeit würdig ist. Er weiß, wer nicht Gott gibt,
gibt zu wenig – wie die selige Theresa von Kalkutta sagte: ‚Die erste Armut der
Völker ist es, dass sie Christus nicht kennen'. Darum gilt es, Gott im
barmherzigen Antlitz Christi zu finden; ohne diese Perspektive baut eine Völkergemeinschaft
nicht auf festen Grund."
1947 gründete Pater Hurtado zusammen mit jungen Akademikern die Chilenische
Gewerkschafts- und Wirtschaftsaktion (ASICH), um durch sie "die Kirche
in der Berufswelt präsent zu machen". Das Werk bot Arbeitern eine auf die
Soziallehre der Kirche ausgerichtete christliche Ausbildung, um die Würde der
menschlichen Arbeit fern von jedem ideologischen Einfluss zu verteidigen.
"Es gibt Leute", schrieb der Pater, "die zwar Fortschritt
wollen, aber schmerzlos. Sie haben nicht verstanden, was es heißt zu wachsen.
Sie wollen sich weiterentwickeln durch Singen, Lernen und durch Freude, aber
bloß nicht durch Hungern, Angst, Scheitern, die harte Mühe des Alltags bzw.
durch die Annahme unserer Ohnmacht, die uns lehrt, uns der Kraft Gottes
anzuvertrauen; auch nicht durch das Aufgeben persönlicher Projekte, wodurch wir
die Pläne Gottes erkennen können. Das Leiden ist wohltuend, weil es mir meine
Grenzen aufzeigt, mich reinigt, mich das Kreuz Christi schmecken lässt und mich
zwingt, mich Gott zuzuwenden." In Zusammenhang mit dieser Arbeit reiste
der Pater in die Vereinigten Staaten und nach Europa; er nahm u. a. an der 34.
Sozialen Woche in Paris und an der Internationalen Woche der Jesuiten in
Versailles teil. In Lyon wohnte er einem Kongress von Moraltheologen über das
Verhältnis von Kirche und Staat bei. Seine Meinung über die katholisch-soziale
Bewegung in Frankreich war positiv, allerdings mit Vorbehalten, insbesondere in
Bezug auf das in Lyon Gehörte. Er stellte darin "einen exzessiven
Erneuerungswillen sowie eine gewisse Tendenz zur Missachtung der wahren Werte
der Kirche, der traditionellen Sichtweise", fest. Das hätte zur Folge,
dass die Kirche "ohne wahrhaft christliche Führer bleibt, nur mit
Vertretern der sozialen, nicht aber der christlich-sozialen Mystik". Bei
einer Pilgerreise nach Rom im Oktober desselben Jahres wurde er sowohl vom
Generaloberen der Jesuiten als auch von Papst Pius XII. ermutigt.
Wie ein Fels in der Brandung
Nach seiner Rückkehr nach Chile verankerte Pater Hurtado das Werk von ASICH
fest im Fundament Christi und der Kirche. 1948 hielt er eine Reihe sehr
populärer Vorträge, die mitunter bis zu 4000 Zuhörer anlockten und auch im
Radio übertragen wurden. Dennoch war er weiterhin Missverständnissen und
ungerechtfertigter Kritik ausgesetzt. Er hatte geschrieben: "Wenn jemand
selbstlos und mit Nächstenliebe begonnen hat, für Gott zu leben, dann werden
bald alle Arten von Not und Elend bei ihm anklopfen." Und es kam wirklich
so: "Ich fühle mich oft wie ein Fels in der Brandung, auf den die Wellen
von allen Seiten her einstürmen. Ich kann nur nach oben entkommen. Eine Stunde,
einen Tag lang lasse ich die Wellen gegen den Felsen prallen und schaue nicht
zum Horizont, sondern erhebe die Augen nach oben, zu Gott. O seliges, ganz
meinem Gott geweihtes und ganz den Menschen gegebenes aktives Leben! Selbst ein
gelegentliches Übermaß an Arbeit zwingt mich dazu, mich an Gott zu wenden, um
mich selbst wiederzufinden! Er ist der einzig mögliche Ausweg aus meinen
Sorgen, meine einzige Zuflucht."
Doch Pater Hurtado stand, obwohl er ein Heiliger war, mit beiden Beinen auf
der Erde: Er wusste, dass der Mensch auch im Dienste Gottes seine Kräfte
schonen sollte: "Man darf nicht übertreiben und seine Kräfte in einem
Übermaß eroberungslustiger Anspannung verzehren. Der großherzige Mensch neigt
dazu, zu schnell vorwärtszustreben; er möchte das Gute errichten und das
Unrecht zerschlagen, doch es gibt eine Trägheit der Menschen und der Dinge, die
berücksichtigt werden will. Mystisch gesprochen muss man sich dem Schritt
Gottes anpassen, sich exakt in den Plan Gottes einfügen. Jeder Versuch, ihn zu
überholen, ist unnütz, schlimmer noch, schädlich. Aktivität wird durch
Aktivismus ersetzt, der wie Champagner sprudelt, unerreichbare Ziele anvisiert
und keine Zeit für Besinnung lässt. Der Mensch verliert die Herrschaft über
sein Leben « Die Gefahr überzogener Aktivität liegt in der Belohnung. Ein
erschöpfter Mensch sucht leicht nach Belohnung. Dieser Moment ist umso
gefährlicher, als man z. T. die Kontrolle über sich selbst verloren hat. Der
Körper ist müde, die Nerven sind gereizt und der Wille schwankt. Unter diesen
Umständen werden die größten Dummheiten möglich. Man sollte lieber den Rhythmus
verlangsamen, mit wirklich guten Freunden wieder zur Ruhe finden, mechanisch
den Rosenkranz beten und sich sanft in Gott ausruhen."
Im Januar 1950 wurde er vom bolivianischen Episkopat zur Teilnahme am
ersten "Nationalen Treffen der Führer des wirtschaftlichen und sozialen
Apostolats" eingeladen. "Die Stunde ist gekommen", sagte er zu
den Jugendlichen der Katholischen Landjugend, "in der unser
wirtschaftlich-soziales Handeln sich nicht länger auf die Wiederholung
allgemeiner Weisungen aus päpstlichen Enzykliken beschränken darf, sondern gut
durchdachte und unmittelbar anwendbare Lösungen auf wirtschaftlichem und
sozialem Gebiet aufzeigen muss." Unterdessen gründete er aus Interesse am
intellektuellen Apostolat die Zeitschrift "Mensaje" (Botschaft), die
er auf einem "hohen Niveau" ansiedeln wollte, um religiöse,
philosophische und soziale Bildung zu vermitteln.
Mitwirkung zu jeder Zeit
Wie tiefgründig die Seele Pater Hurtados war, offenbarte sich vor allem
während seiner letzten Krankheit und seines Sterbens. Obwohl er wusste, dass er
Pankreaskrebs hatte, rief er: "Warum sollte ich nicht glücklich sein? Ich
bin dem lieben Gott sogar dankbar dafür. Statt eines plötzlichen Todes schickt
er mir eine lange Krankheit, damit ich mich vorbereiten kann. Der liebe Gott
ist für mich ein wirklich liebevoller Vater gewesen, der beste aller
Väter." Seit langem hatte unser Heiliger seine intensive Aktivität auf
diese Stunde hin ausgerichtet: "Das Leben ist dem Menschen geschenkt
worden, damit er mit Gott zusammenarbeitet, um dessen Plan zu verwirklichen;
der Tod komplettiert diese Zusammenarbeit, denn er bedeutet die Rückgabe all
unserer Macht in die Hände des Schöpfers. Ich will mich jeden Tag auf meinen
Tod vorbereiten, indem ich zu jeder Zeit daran mitwirke, was Gott von mir will,
indem ich meine Mission erfülle, und zwar die, die Gott von mir erwartet und
die nur ich allein erfüllen kann." Er hatte sich immer nach dem ewigen
Leben gesehnt, d.h. nach der endgültigen Begegnung mit Christus: "Und ich?
Vor mir liegt die Ewigkeit. Ich bin ein in die Ewigkeit abgeschossener Pfeil",
schrieb er. "Ich will mich nicht hier festklammern, sondern durch alles
hindurch das künftige Leben sehen. Mögen alle Geschöpfe für mich durchsichtig
sein und mich immer Gott und die Ewigkeit sehen lassen. Sind sie nämlich
undurchsichtig, werde ich ganz irdisch und bin verloren. Nach mir die Ewigkeit.
Dorthin gehe ich, und zwar sehr bald « Wenn die Gegenwart einem so schnell zu
verfliegen scheint, schließt man: Ich gehöre zum Himmel und nicht zu etwas
Irdischem." Das Bild des Pfeils verdeutlicht die Flüchtigkeit des Lebens
und zugleich seine Konzentration auf ein einziges Ziel hin: die Ewigkeit. Im
Übrigen war es die Perspektive der Ewigkeit, die Pater Hurtado daran hinderte,
dem Leiden der Menschen gleichgültig gegenüberzustehen. "Alle Menschen in
mein Herz einschließen, alle zusammen", schrieb er. "Jeden an seinen
Platz, denn natürlich gibt es verschiedene Plätze im Herzen eines Menschen.
Meine verschiedenen Lieben in Christus vereinen. Alles in mir: Das ist wie eine
Opfergabe, wie ein Geschenk, das das Herz sprengt; eine Regung Christi in mir,
die meine Nächstenliebe weckt und anfacht, eine Bewegung der Menschlichkeit
durch mich hindurch auf Christus zu. Das ist Priestertum!"
Pater Hurtado starb friedlich am 18. August 1952 im Kreise seiner
Mitbrüder. Kurz zuvor hatte er geschrieben: "Da ich weggehe und zu meinem
Vater zurückkehre, möchte ich euch sagen: Jedes Mal, wenn ihr auf Nöte und
Mühen der Armen aufmerksam werdet, versucht ihnen zu helfen, wie man unserem
Meister helfen würde." Die Messe zu seiner Beerdigung war ein wahrer
Triumph. Als die Besucher die Kirche verließen, formten sich die Wolken zu
einem Kreuz am Himmel; die Zeitungen berichteten über das eindrucksvolle
Phänomen.
Pater Hurtado wurde am 16. Oktober 1994 von Johannes-Paul II. selig- und am
23. Oktober 2005 von Benedikt XVI. heiliggesprochen; letzterer merkte an:
"In seinem priesterlichen Dienst zeichnete er sich durch Schlichtheit und
Verfügbarkeit für andere Menschen aus und war so ein lebendiges Abbild des
‚gütigen und von Herzen demütigen' Meisters. Am Ende seiner Tage hatte er in
den starken Schmerzen, die seine Krankheit mit sich brachte, noch die Kraft,
immer wieder zu sagen: ‚Ich bin zufrieden, Herr, ich bin zufrieden', und
brachte auf diese Weise die Freude zum Ausdruck, die ihn immer begleitet
hatte."
Bitten wir den heiligen Alberto Hurtado, er möge uns die Gnade einer tiefen
Freude im Dienste Gottes und unseres Nächsten erwirken, durch alle Leiden
hindurch, die mit dieser Hingabe einhergehen.
Dom Antoine Marie osb
http://www.clairval.com/lettres/de/2006/08/29/1300806.htm